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Was bezahlt wird hilft oftmals nicht (Eine Insiderin packt aus)
Seit nunmehr 30 Jahren arbeite ich in der Verwaltung des sozialen Gesundheitswesens, sprich, für die gesetzlichen Krankenversicherungen. Davor war ich eine Weile als Pflegehelferin in einer Klinik tätig. Anschließend habe ich eine Ausbildung im medizinischen Bereich absolviert. Alles in allem arbeite ich seit 38 Jahren mehr oder weniger für das deutsche Gesundheitswesen. In diesem Zeitraum ist mir so manche „Reform“ untergekommen. Doch durch all diese Reformen hat sich nach meinem Eindruck im Grunde kaum etwas verbessert. Es wurde ein Sozialgesetzbuch erarbeitet, das 12 Gesetzesbücher umfasst, in denen es heißt, dass alles gezahlt wird, was „zweckmäßig, wirtschaftlich und ausreichend“ ist.
Zu Beginn meiner Ausbildung bekamen die gesetzlich Krankenversicherten durch aus noch etwas mehr als die Hälfte der Kosten für einen geplanten Zahnersatz er stattet. An meinem Ausbildungsende sah das schon schlechter aus. Da erhielten die Patienten nur noch 20 % der Kosten zu rück, und zwar nur dann, wenn sie die günstigsten Materialien und die einfachsten Techniken in der Zahnprothetik akzeptierten. Die günstigsten Materialien und einfachsten Techniken wurden nicht etwa von Zahnärzten, sondern von den Verwaltungschefs der gesetzlichen Krankenkassen vorgeschrieben. Ob das nachhaltig half bzw. lange hielt, stand dabei gar nicht zur Debatte. Für die Krankenkassen ging es im Moment nur darum, ob es billig war – allein das zählte.
Was soll ich dazu sagen? Nicht etwa, dass die Ärzteschaft das Ganze noch überdacht und evtl. nachgebessert hätte, nein, das Gegenteil war der Fall: Man übernahm diese Regelung einfach mit in die gesamte medizinische Versorgung. Das war ja ziemlich praktisch und verschlang anfangs weniger Geld. Die gesetzlichen Krankenkassen hatten auf diese Weise plötzlich Überschüsse, die sie eigentlich laut Sozialgesetzgebung gar nicht anhäufen durften, und sie wussten oft nicht einmal, wohin damit.
Mitte der 90er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts kam man dann auf die geniale Idee, eine Pflegeversicherung einzuführen, und das meine ich wirklich ernst, denn das war das Genialste, was jemals im Sozialwesen eingeführt wurde. Alle gesetzlich Versicherten hatten nun im Falle einer Pflegebedürftigkeit Anspruch auf Pflegegeld. Der 1989 neu geschaffene Medizinische Dienst der Krankenversicherung hatte diesen Anspruch zu überprüfen und das tut er auch heute noch. Die medizinischen Gutachter kommen ins Haus und legen für den jeweiligen Pflegebedürftigen den Pflegegrad von 0 (keine Pflegebedürftigkeit) bis 4 (Schwerstpflegebedürftigkeit) fest. Das ist grundsätzlich sicher eine super Idee, die auch weiterentwickelt wer den sollte. Aber das Ganze kostet halt auch eine Stange Geld – und zwar nicht zu knapp! Allein deswegen stiegen die Krankenkassenbeiträge innerhalb von 15 Jahren schier ins Uferlose.
Mittlerweile bezahle ich selbst von meinem Gehalt fast 30 % an Sozialabgaben und anderen geht es wohl ähnlich. Wer nun aber meint, dass er für solch hohe Ab gaben alle für ihn notwendigen Therapien bezahlt bekommt, der irrt sich gewaltig! Die Praxisgebühr für den Zutritt in eine Arztpraxis wurde inzwischen zwar eingefroren, doch für wichtige Verordnungen wie Brillengläser, Physiotherapien, Reha Behandlungen, Verbandsmaterial und auch Rezepte über Schmerztabletten oder sonstige Arzneimittel muss mindestens eine Rezeptgebühr in Höhe von 5 € entrichtet werden. Für sogenannte Bagatellmedikamente wie Hustensaft oder Nasen spray gegen Erkältungen muss man von vornherein selbst aufkommen. Bei Brillen gläsern erhält man pro Glas nur 40 € er stattet – das Brillengestell zahlt man immer selbst. Bei einer Kurzsichtigkeit über -8 Dioptrien wird pro Glas ein Zuschuss von 200 € gewährt. Wenn man bedenkt, dass solch ein Brillenglas ein hochwertiges, individuell angepasstes und an gefertigtes Hilfsmittel ist und das billigste Glas um die 400 € kostet, dann ist das recht wenig! Aber es wird noch besser: Eine Psychotherapie kann man mittlerweile so lange durchführen, wie man will. Wird diese aber irgendwann beendet, dann lässt sie sich im nächsten Monat nicht so ohne Weiteres fortführen. Man muss dann vielmehr mindestens 2 Jahre auf die nächste Therapie warten. In der Zwischenzeit kann man sich ja mit teuren, oft wenig sinnvollen und nebenwirkungsreichen Psychopharmaka behelfen, gesetzt den Fall, man bekommt bei einem nieder gelassenen Psychiater überhaupt einen Termin. Denn Psychopharmaka dürfen nur von einem approbierten Arzt verordnet werden.
Und zu guter Letzt noch das leidige Gebiet der Orthopädie. Wehe dem, der einen Bandscheibenschaden oder einen Gelenk schaden erlitten hat und sich nicht oder nicht gleich in die Hände eines Chirurgen begeben, sondern stattdessen zunächst ein Rezept für eine Physiotherapie in Anspruch nehmen will. Zuallererst wird einem vom Orthopäden der Gang zum Chirurgen ans Herz gelegt und wenn man als Patient dann brav die Überweisung an nimmt, erhält man normalerweise auch ein Rezept für eine Physiotherapie – aber nur für maximal 6 Anwendungen. Und pro Jahr sind nur maximal 4 solcher Rezepte à 6 Anwendungen erlaubt! Diese Rezepte sind dann selbstverständlich auch gebührenpflichtig – pro Rezept darf man beim Physiotherapeuten ca. 20 € berappen. Das geht natürlich alles auf den Geldbeutel.
Eines habe ich noch vergessen: Als Kassenpatient kann man durchaus auch Wünsche für alternative bzw. konservative Behandlungen äußern, da wären z. B. TENS (Reizstromtherapie), Osteopathie oder Massagen. Das sind dann aber keine Kassenleistungen mehr, sondern sogenannte IGel-Leistungen. Diese Therapien muss man also komplett selbst bezahlen. Eine Operation würde man hingegen umsonst bekommen, aber eben nur die OP, denn die Kassen sind auch noch zur Zahlung eines Krankenhaustagegeldes verpflichtet. Um für die Kassen diese Kosten möglichst zu vermeiden, werden die Patienten vielfach schon nach einem Tag der stationären Überwachung wieder aus der Klinik „entlassen", selbst wenn noch eine Blutungsgefahr besteht. Und nicht immer hilft eine OP wirklich, nicht selten wird der Zustand des Patienten eher schlimmer statt besser.
Manchmal ist der operierte Patient nach einem Jahr ähnlich gut oder schlecht dran wie ein konservativ Behandelter. Aber er war immerhin 6 Monate arbeitsunfähig und nach 6 Wochen konnte er endlich sein Krankengeld (70 % des letzten Nettogehalts) beziehen. Danach benötigte er für den Rest seiner Tage immer wieder Krankengymnastik-Rezepte, Rehabilitationsbehandlungen und unter Umständen schließlich doch einen Gelenkersatz für ca. alles in allem 30.000 €, und das nur sehr konservativ geschätzt. Ein Osteopath, Physiotherapeut oder Masseur hätte das Gleiche vielleicht für einen Bruchteil der Summe erreicht und der Patient wäre am Ende u. U. noch fitter. Aber wie schon fest gestellt, werden solche Behandlungen von den Krankenkassen oft nicht mehr bezahlt. Wer nun allerdings meint, dass ihm das nicht passieren könne, weil er privat versichert ist, dem sei deutlich gesagt, dass sich die privaten Krankenkassen (PKV) seit etwa 20 Jahren mehr und mehr den Richtlinien der gesetzlichen Krankenkassen an passen. Manche PKVen sind mittlerweile in ihren Leistungen sogar schlechter als die gesetzlichen Krankenkassen. Vor allem diejenigen, die hauptsächlich Beamte und Beamtenanwärter versichern, haben oft ein noch schlechteres Niveau.
Fazit: Was bezahlt wird, hilft oft nicht und was wirklich helfen würde, wird vielfach nicht bezahlt. Man will sich die Kundschaft ja nicht vertreiben! Die Versicherten werden daher nach meinem Dafürhalten von vorne bis hinten betrogen und bezahlen für ihre vermeintliche Absicherung nicht selten mit dem Preis ihrer Gesundheit. Da nenne sich eine dieser gesetzlichen Krankenversicherungen noch einmal „Gesundheitskasse".
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